Agnieszka Brugger und Sara Haug diskutieren in Calw über verantwortungsvolle Außenpolitik
„Ich habe Angst, dass wir hier stehen und zusehen müssen, wie diese Menschen den Taliban in die Hände fallen“, sagt ein Calwer Bürger bei einer Diskussion zur Lage in Afghanistan, und fragt Brugger als Verteidigungsexpertin, welche Chancen sie sehe, dass die gefährdeten Menschen noch aus Afghanistan herauskommen. Darüber diskutierten Bürgerinnen und Bürger am 30. August in Calw mit Sara Haug, der Bundestagskandidatin von Bündnis 90/Die Grünen und mit Agnieszka Brugger, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag.
Menschen klammern sich an ein Militärflugzeug, das schon vom Boden abgehoben hat – Sara Haug findet dies „eines der schrecklichsten Videos, die man in letzter Zeit sehen konnte“. Sie wirft der schwarz-roten Bundesregierung vor: „Wenn man dafür verantwortlich ist, muss man sich doch frühzeitig verschiedene Szenarien überlegen, wie es gehen kann mit der Evakuierung, und wie es schnell gehen kann, wenn es nötig ist.“
Vor diesem Hintergrund ist nur schwer nachzuvollziehen, dass Union und SPD die Forderung der Grünen abgelehnt haben, dass die Bundesregierung keine Daten mit Bezug zu Afghanistan löschen darf, um die Aufarbeitung der Versäumnisse zu ermöglichen. Die Grünen fordern Aufklärung, sagt Brugger, „weil wir nur so dafür sorgen, dass sich dieses Versagen nicht wiederholt. Es ist beschämend, wie niemand in der Bundesregierung die Verantwortung dafür übernimmt“.
Seltener Einmut bei Bundeswehr und Zivilgesellschaft
Die afghanischen Sicherheitskräfte haben aufgegeben, überlassen deutsche Waffen den Taliban, in Doha präsentieren sich deren Sprecher als neue Herrscher – das Entsetzen darüber eint die deutsche Zivilgesellschaft mit der Bitterkeit der Soldatinnen und Soldaten, die zwanzig Jahre lang in diesem gedient haben, ist groß. Denn hier zeigt sich, dass der Löwenanteil der Verantwortung bei der Bundesregierung liegt. Grundsätzlich sei die Geschichte des militärischen Engagements in Afghanistan eine der verpassten Chancen, so Brugger. „Deshalb ist eine selbstkritische, unabhängige Evaluation unverzichtbar, und zu einer ehrlichen Debatte muss dazugehören, militärisches, aber auch ziviles Engagement kritisch, unabhängig und umfangreich auszuwerten.“
Wie aktuell die Frage nach langfristigen Strategien für jede Regierung ist, zeigt Agnieszka Bruggers Vergleich mit dem deutschen Militäreinsatz in Mali: „Es reicht nicht aus, Sicherheitskräfte zu trainieren, sondern sie müssen auch in einen funktionierenden Staat eingebettet sein.“ Schon seit 2009 ist Brugger Mitglied des Bundestags und fordert eine strikte Begrenzung von Rüstungsexporten. In ihrer parlamentarischen Arbeit setzt sie sich für Frieden, Sicherheit und Menschenrechte ein – in diesen Tagen mit breiter Unterstützung quer über alle demokratischen Parteien hinweg, die immer wieder ein sicheres, großzügiges Verfahren zur Rettung der schutzbedürftigen Afghaninnen und Afghanen angemahnt haben. „Nicht nur die Grünen haben das gefordert, sondern auch aus der Bundeswehr und aus der Zivilgesellschaft kamen diese Forderungen.“
Ein Diskussionsteilnehmer in Calw spricht aus, was alle bewegt: „Was kann Deutschland anbieten, damit die Taliban die Betroffenen ausreisen lassen?“ Sara Haug: „Wenn schon die Bundesregierung es nicht schafft, Leute zu evakuieren, wie sollen es dann die Betroffenen aus eigener Kraft schaffen?“
Offen war auch die Frage, ob mit den Taliban überhaupt verlässlich Verhandlungen geführt werden können. Agnieszka Brugger und Sara Haug waren skeptisch, ob die neuen Machthaber das umsetzen, was sie derzeit in Doha ankündigen, beispielsweise dass auch Frauen Berufsfreiheit haben und Mädchen weiterhin zur Schule gehen können.
Eine besonders perfide Form der Kriegsführung ist die systematische Unterwerfung und Vergewaltigung von Frauen. Seit 2002 wird dies explizit als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Die Taliban haben bereits damit begonnen, unverheiratete Mädchen aus ihren Familien zu reißen und sie an Taliban-Kommandeure zwangszuverheiraten. Sara Haug: „Jetzt schon hören wir täglich Berichte, dass die Taliban Frauen mitnehmen und vergewaltigen.“
Was bedeutet das für die Entwicklungszusammenarbeit? Werden weiterhin Gelder nach Afghanistan fließen, zum Beispiel für Schulen oder für Rechtsanwältinnen und Gynäkologinnen wie der bekannten Hilfsorganisation Medica Mondiale? Derzeit nicht. „Man hat sich erpressbar gemacht“, sagt Brugger, man hätte handeln können – aber man hat es nicht getan.“ Brugger beschönigt nichts: „Wir stehen vor einem brutalen, gemeinen Dilemma: Man möchte den Menschen in der Zivilbevölkerung helfen, aber man muss verhindern, dass das Regime die Hilfslieferungen blockiert und für die eigenen Leute einsetzt.“
Die sehr lebendige Diskussion endet nach knapp 90 Minuten und ist ganz offensichtlich auf reges Interesse bei den Bürgerinnen und Bürgern gestoßen. Auch Sara Haug ist zufrieden. Sie kennt Agnieszka Brugger seit einem Workshop für junge Ratsmitglieder. Seitdem sind sie in Kontakt geblieben, die Bundestagsabgeordnete blickt stolz auf den politischen Nachwuchs: „Analysefähigkeit und Unaufgeregtheit“ attestiert sie der 25-jährigen Bundestagskandidatin und ermuntert sie, auf ihrem Weg weiterzugehen. „Genau solche Menschen brauchen wir im Bundestag.“
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