BDK 2021 Bericht und Kommentar

Bundesdelegiertenkonferenz Bündnis90/Die Grünen am 11.-13. Juni 2021 (Berlin und online)

Die Bundestagswahl gewinnen die Grünen mit Annalena Baerbock und diesem neuen Parteiprogramm – so hoffen es die über 800 Delegierten, die am Wochenende darüber abgestimmt haben. Anders als tagesschau.de und andere seriöse Medienplattformen vermuten ließen, wurde die Beschlussvorlage des Bundesvorstandes jedoch heftig diskutiert, und dies bereits schon seit Monaten. Selbst vor einem Antrag zur Geschäftsordnung als taktisches Mittel schreckte eine Delegation der Friedensbewegung nicht zurück, die mit nur drei Stimmen Rückstand ihren Antrag auf Verzicht bewaffneter Drohnen abgelehnt sah. Das Gesamtergebnis des Wahlprogramms ist jedoch ein breites Angebot an die Wähler*innen weit über die typische grüne Klientel hinaus.

Die Grünen liefern die Transparenz, die sie für Wirtschaft und demokratisches Regieren fordern, bereits in ihrem Programmprozess. Bis 30. April dieses Jahres konnten sämtliche Grünen-Mitglieder Anträge zum Programm einbringen. In nur sechs Wochen bearbeitete die Antragskommission 3280 Änderungsanträge. So konnte es gelingen, ähnlich lautende Eingaben zu einem Text zusammenzufassen oder Inhalte und Formulierungen direkt in die Vorlage des Bundesvorstandes (BuVo) zu übernehmen.

Dazu wurden die Antragsteller*innen angeschrieben und angerufen, so dass in vielfachen Diskussionen zu jedem einzelnen Text ein Konsens erarbeitet werden konnte. (Einige Anträge wurden zu dieser Zeit auch zurückgezogen.) Nur mit dieser intensiven Vorarbeit war es möglich, überhaupt an einem einzigen Wochenende ein Parteiprogramm zu beschließen, mit dem die Wähler*innen sich vorstellen können, welche Schwerpunkte die nächste Bundesregierung setzen wird. Diese Links fassen die wesentlichen Inhalte zusammen: https://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahl-2021-was-im-wahlprogramm-der-gruenen-steht.2897.de.html?dram:article_id=494383 und https://www.rnd.de/politik/gruenen-parteitag-was-von-3280-aenderungsantraegen-uebrig-bleibt-URD3PRRW7VAWLED4SMGE6E5MDU.html

Konferenzbeginn: elektronische Stimmkarte nehmen. Bildschirmfoto der Autorin

Basisdemokratie durch konsequente Beteiligung

Eine Reihe von Entscheidungsvorlagen der Parteispitze trugen durch die vorbereitende Einarbeitung von Änderungen bereits die Handschrift vieler einzelner Parteimitglieder. Diese waren als „modifizierte Übernahme“ gekennzeichnet, so mussten sich die Delegierten nicht erst zwischen dem Urtext des BuVo und der Modifikation entscheiden, sondern konnten sich konzentrieren auf wesentliche Unterschiede in den zur Wahl stehenden Alternativen.

Ein Beispiel: Soll die Bundeswehr künftig bewaffnete Drohnen anschaffen und einsetzen? Ein in Zivil gekleideter Berufssoldat begründete aus seiner Fachkompetenz, warum dies nötig sei. Ein Antrag aus der Friedensbewegung, aus der die Grünen ja vor über 40 Jahren hervorgegangen sind, lehnte den Einsatz bewaffneter Drohnen in jedweder Form ab. Der Formulierungsvorschlag des BuVo vermittelte zwischen diesen beiden Extrempositionen. In einem Meinungsbild konnten sich die Delegierten zunächst für mehrere Optionen aussprechen, danach traten in einer Stichwahl die beiden am stärksten favorisierten Positionen in Wettbewerb.

Diese Abfolge aus Meinungsbild und Stichentscheid war das übliche Verfahren, wenn mehrere unterschiedliche Änderungsanträge zu denselben Programmpassa- gen vorlagen. Auch diese Vorgehensweise ist zustimmungspflichtig. Deswegen wurde vor jedem Programmkapitel darüber abgestimmt, ob die Delegierten mit dem Verfahren einverstanden sein würden. Solche „Formalia“ sind wesentliche Hebel in unserer Demokratie, jeder Sportverein kennt sie, z. B. bei der Frage, soll ein*e Vorsitzende*r in offener oder in geheimer Abstimmung gewählt werden?

Knappe Abstimmung um urgrüne Themen

Mit nur drei Stimmen Vorsprung, und dies bei sehr hoher Wahlbeteiligung und ausnehmend langer Abstimmungszeit für das online-Verfahren war dies die knappste Abstimmung des gesamten Parteitages: Der Vorschlag des BuVo wurde mehrheitlich angenommen.

Antrag auf Wiederholung abgelehnt! Bildschirmfoto der Autorin

Formalia wie Verfahrensfragen haben allerdings noch einen Nebeneffekt: Man kann sie auch benutzen, wenn man gegen ein unliebsames Ergebnis vorgehen will. So kam es, dass eine Gruppe Delegierter aus Berlin-Friedrichshain/Kreuzberg einen Antrag zur Geschäftsordnung stellte und forderte, dass die Abstimmung zu bewaffneten Drohnen wiederholt würde. Sie begründete ihren Antrag damit, dass sie aufgrund technischer Probleme nicht habe abstimmen können. Das schien den Teilnehmer*innen des online-Chats im Grünen Netz alles andere als plausibel, und auch die Mitarbeiter*innen im Support äußerten ihre Verwunderung, man sei doch online und auch am Telefon jederzeit erreichbar gewesen.

Fair genug, dass eine deutliche Mehrheit der 722 mitstimmenden Delegierten sich gegen eine Abstimmungswiederholung aussprachen. Eine Zweidrittel-Mehrheit wäre immerhin nötig gewesen.

Weitere kontroverse Themen waren Fragen zur Änderung des Personenstandsrechtes und zur Prostitution. Eine Antragstellerin kostete die Konferenzteilnehmer*innen viel Zeit mit Anträgen, die von vornherein als aussichtslos zu betrachten waren, die aber, formal korrekt, genügend Unterstützer*innen für ihre Eingabe gefunden hatte, um gehört werden zu müssen. Sie fiel mehrfach auf wegen ihrer maßlosen Überziehung der Redezeit, die eigentlich auf zwei Minuten begrenzt war.

Aber selbst wer es bizarr finden mag, dass sich ausgerechnet eine Grüne gegen die Erweiterung von Transsexuellenrechten ausspricht, indem sie unterstellt, es gäbe Männer (sic!), die sich als Frauen ausgeben und darauf bestünden, „Frauen mit Penis“ zu sein, muss zugeben: So funktioniert Demokratie, und die Anträge erfüllten die formellen Kriterien. Das wütende Echo im Chat zu den Argumenten der Antragstellerin war nicht zu übersehen. Die Berichterstattung der Qualitätsmedien ging an dieser Stelle bisher gnädig mit den Grünen um und verzichtete weitgehend auf bissige Seitenhiebe.

Das war die BDK: https://www.youtube.com/watch?v=Con6qUBSvaA

Maßnahmen statt wolkiger Versprechungen

Annalena Baerbock und Robert Habeck betonten in ihren Reden immer wieder, dass grüne Politik sich an konkreten Maßnahmen messen lassen wolle. Wie ernst es ihnen damit ist, bewiesen sie durch die Einladung eines prominenten Überraschungsgastes: Die gewählte belarussische Präsidentin, die ins Exil gezwungen wurde. Swet- lana Tichanowskaja hat in Weißrussland die Präsidentschaftswahl gewonnen – nachdem der vorige Amtsinhaber Lukaschenko ihren Mann hatte verhaften lassen. Ihre Ansprache erschütterte das anwesende Publikum merklich, und auch das sonst heiter plaudernde Moderationsduo aus Ninia LaGrande und Marco Ammer hielt die Luft an und ließ dem online-Publikum Zeit, von dieser Schilderung der ganz realen Angriffe auf die Freiheit zum Tagesgeschäft der Konferenz zurückzukehren. (Mehr dazu: https://www.dw.com/de/tichanowskaja-fordert-harte-sanktionen-gegen-lukaschenko/a-57871314 und https://www.youtube.com/watch?v=80m4kTEik74)

Freiheit gehört zum Markenkern der Grünen. Gerade aber weil der Partei immer wieder vorgehalten wird, sie wolle Menschen gängeln und einschränken, war das Thema Freiheit in vielen Reden und Gastbeiträgen präsent.

Madeleine Albright, geborene Ungarin und ehemalige Außenministerin der USA, gab den deutschen Grünen in ihrer Grußbotschaft drei Kernpunkte auf: 1. Die USA, Europa und Deutschland müssen die Führung übernehmen, um die Demokratie auf der Welt zu schützen und auszubauen. 2. Sie müssen es gemeinsam und im Einverständnis miteinander tun; wenn sie es nicht tun, haben wir die Wahl zwischen repressiven Regimes wie Russland und China, oder dem Chaos. Albrights tiefe Ablehnung Chinas war nicht zu überhören. So deutlich kann sich nur eine Grande Dame internationaler Außenpolitik äußern, die keine Angst mehr hat, eine Wahl zu verlieren.

Nicht ohne Heiterkeit nahm das Publikum Albrights missbilligende Bemerkung hin, das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA habe in den letzten Jahren einige Turbulenzen aushalten müssen, aber das werde sie hier nicht weiter ausführen. Die Demokratie habe sich ja auch in den USA als widerstandsfähig erwiesen, sagte sie, und begründete so ihren dritten Punkt: Die demokratischen Staaten müssen einander beistehen und sich gegenseitig dabei unterstützen, die Demokratie und alle ihre Institutionen zu schützen.

Auch Fachleute außerhalb der Politik waren eingeladen. Das Medieninteresse am ehemaligen Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser war groß (siehe z. B. Stuttgarter Nachrichten https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.ex-siemens-chef-redet-auf-gruenen-parteitag-die-ergruenung-des-joe-kaeser.8d2bdb7b-ba65-46f3-bf9ce7d7b99a051d.html?reduced=true), aber auch unbekanntere Fachleute hatten Wichtiges zu sagen.

Wie man sich am Programmprozess beteiligen kann

Die Berichterstattung der Qualitätsmedien ließ gelegentlich vermuten, die „Parteispitze“ – Grüne sagen dazu Bundesvorstand oder kurz BuVo – habe bei ihren Parteimitgliedern jede Menge Anträge abgeschmettert. Wer nur die Abstimmungsergebnisse zu den Änderungsanträgen zählt, konnte diesen Eindruck vielleicht gewinnen. Falsch ist er trotzdem, denn der Programmprozess hat bereits letztes Jahr begonnen, und viele Eingaben aus zahlreichen Gremien der Grünen waren längst in den Text des BuVo eingeflossen.

Jede*r kann sich bei den Grünen einbringen: Jedes Bundesland hat so genannte Landes-Arbeitsgruppen zu verschiedenen politischen Schwerpunkten. In Baden-Württemberg ist die größte Landesarbeitsgruppe z. B. die LAG Wirtschaft, Finanzen und Soziales. An einer LAG kann man auch teilnehmen, wenn man nicht Parteimitglied ist. Dieses außerordentlich niedrigschwellige Angebot an Interessierte zu grüner Politik ist einzigartig in der Parteienlandschaft. Wer Interesse hat, an einer der aktuell noch online stattfindenden Sitzungen teilzunehmen, findet hier die Ansprechpartner*innen: https://www.gruene-bw.de/partei/landesarbeitsgemeinschaften/

Vera Naumann, KV Freudenstadt

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