Franziska Brantner (MdB) und Sara Haug, Bundestagskandidatin von Bündnis 90/Die Grünen in Calw und Freudenstadt, besuchten am 10.09.2021 die Erlacher Höhe.
Der Mann verlässt die Familie und taucht ab, die Frau bleibt mit den kleinen Kindern in der Wohnung zurück. Die Miete kann sie alleine nicht mehr bezahlen. Eine Räumungsklage folgt, die Mutter ist mit dem Wust an Anträgen für einen Unterhaltsvorschuss völlig überfordert. Jobverlust, Unfall, Trennung – so beginnt nicht selten eine Spirale von Schulden, Wohnungslosigkeit und Existenznot.
Die Einrichtungen der Erlacher Höhe sind für viele Menschen in solchen prekären Situationen ein Hoffnungsanker. Franziska Brantner und Sara Haug sprachen mit Andreas Reichstein, Sebastian Kirsch und Arne Rausch von der Erlacher Höhe über konkrete Beispiele und politische Forderungen rund um Wohnungslosigkeit, Arbeitsplatzverlust und die Rettung aus dem Absturz.
Arne Rausch arbeitet in der Wäscherei. Hier werden Kleiderspenden und Bettwäsche gewaschen, aber auch kommerzielle Aufträge werden angenommen, damit sich die Dienstleistung finanziell trägt. „Mein Tag hat mit dieser Arbeit wieder eine Struktur bekommen“, sagt er. „Aber ohne Vorschuss wäre dieser Monat für mich nicht bezahlbar. Ich habe eine Wohnung gefunden, ich muss jetzt für Miete und Lebensunterhalt zahlen, aber meine Leistungen vom Jobcenter wurden eingestellt, meine Erwerbsminderungsrente kommt erst Ende September.“ Nach einem schweren Unfall musste Rausch ganz von vorne anfangen.
Der Wiedereinstieg ins Erwerbsleben ist besonders für Wohnungslose oft schwierig. Um sich wieder an eine Tagesstruktur zu gewöhnen, gibt es bei der Erlacher Höhe in Bad Wildbad eine Kreativwerkstatt, direkt nebenan ein Sozialkaufhaus. Sara Haug und Franziska Brantner besichtigten die Räume: Dekorationsgegenstände aus Holz werden dort gefertigt, Bäume, Blumen, Puppen, Spielzeugbagger. Auch heiter verzierte Schilder für den Bedarf in Haus und Garten sind ausgestellt. Man kann gerne Wünsche oder Aufträge an die Werkstatt geben. Auch während der extremen Pandemie blieben Werkstatt und Tafelladen geöffnet. „Die Leute haben sich ja daran gewöhnt, Maskenpflicht und Abstand und alle Hygieneregeln einzuhalten“, erklärt Sebastian Kirsch.
Eine Registrierung der Käufer*innen wird im Sozialkaufhaus nicht verlangt. „Wir gehen davon aus, dass die Menschen es wirklich brauchen, die zu uns kommen“, sagt Kirsch. Es geht hier um weit mehr als um die Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs. Hier finden die Hilfesuchenden auch ein niedrigschwelliges Gesprächsangebot, zum Beispiel kann man eine Schuldnerberatung in Anspruch nehmen, ein Besprechungsraum ist vorhanden. „Wenn ich die Rechnung nicht bezahle, komme ich in den Knast“, zitiert Kirsch einen seiner Kunden. „Da sind wir gefragt, um Hilfe zu leisten und den Leuten Mut zu machen, wie man aus der Schuldenfalle wieder rauskommt.“
Das Sozialkaufhaus schafft auch weitere Arbeitsplätze. So werden Fahrer und Helfer gebraucht, um die Waren für den Laden bei den Spender-Unternehmen einzusammeln und anzuliefern.
Auch eine Kleiderkammer betreibt die Erlacher Höhe in Calw. Für Wohnungslose gibt es 20 Plätze – und eine Warteliste. Kinder können nicht aufgenommen werden, für sie ist die Jugendhilfe zuständig. Die Arbeitslosenquote in der Region ist hoch, und wohnungslose Familien sind ein zunehmendes Problem.
Bezahlbaren Wohnraum schaffen
„Der Wohnungsmangel ist eklatant,“ sagt Reichstein „wir können nicht nochmal vier Jahre diskutieren – wir müssen bauen!“ Ein gutes Beispiel ist in der Gemeinde Althengstett zu finden, berichtet der Sprecher der Calwer Grünen im Kreistag, Joe Schwarz. Dort wurde mit Neubauten begonnen, von denen 20% der Wohnfläche zu einem reduzierten Preis auf den Markt gebracht werden sollen, und ökologisch interessant sind die Projekte auch.
Franziska Brantner erinnert an den gemeinnützigen Wohnungsbau, der in den 1990ern abgeschafft wurde. Der Bestand von „drei Millionen Wohnungen mit Mietpreisbindung ist auf eine Million geschrumpft“, wirft Reichstein ein.
Wie bitter die aktuelle Lage ist, illustriert Sebastian Kirsch mit Fotos aus einer Kellerwohnung ohne Bodenbelag und mit Schimmel an den Wänden. „Schauen Sie doch mal auf Immoscout, wie viele Wohnungen Sie für 328 Euro finden und wie die aussehen.“ Das ist die Hartz-IV-Mietobergrenze für eine Person in Calw.
Armut trifft viele Menschen auch im Alter, deswegen nimmt Sara Haug Neubauten in den Blick: „Wenn in einem Baugebiet Einfamilienhäuser geplant sind auf großer Fläche, muss ein Teil davon für Senior*innen vorgesehen werden.“
Vertrauen ist gut, Kontrolle kommt später
Andreas Reichstein wirbt für mehr Vertrauen: „Eine Lehre aus anderthalb Jahren Corona ist, dass man auch ohne umfangreiche Prüfungen Hilfsgelder an diejenigen auszahlen kann, die es wirklich brauchen.“
Franziska Brantner fordert, dass nur noch einige wichtige Dinge nachgefragt werden, sieht aber Hemmnisse: „Unser aktuelles System geht davon aus, dass die Leute beschummeln wollen.“ Eine weitere Forderung: Ein eigener Regelsatz für Kinder muss eingeführt werden, der nicht mehr abgeleitet wird vom Satz für Erwachsene. Kinder haben ganz andere Bedürfnisse und Notwendigkeiten.
„Bei den Corona-Hilfen wurde das Vermögen auch nicht angeschaut, und es gab keine Bedürftigkeitsprüfung“, erinnert Reichstein. Sebastian Kirsch weist auf eine Trennung zwischen Cash- und Care-Leistungen hin, also die direkte Auszahlung von Geldern im Unterschied zu Betreuungsleistungen und Kostenübernahmen. In diesen Bereich gehört auch die Frage, welche Leistungen, zum Beispiel für Kinder, direkt an die Familien gehen sollen und welche bei den Institutionen angesiedelt sein sollen. Brantner votiert klar für ein Modell, bei dem die Musikschulen, die Vereine und Schulen gestärkt werden.
Ab wann soll man doch kontrollieren? „Wenn der Verdacht auf Missbrauch besteht“, sagt Brantner, „kann man immer noch anlassbezogen prüfen, wie die Verhältnisse sind.“ Andreas Reichstein gibt ein anschauliches Beispiel: „Wenn da steht, jemand hat 125 Euro Zinsen auf Kapitalertrag angegeben, da darf man schon mal fragen, was das für ein Kapitel ist.“
Wichtig ist jedenfalls, dass die Menschen nicht sofort ihre Wohnungen verlassen müssen, wenn die Lage prekär wird, dafür gibt es allseits Zustimmung.
Antragsflut eindämmen
Einig ist sich die Runde auch darin, dass die Antragsflut für die Betroffenen eingedämmt werden muss. In der Diskussion wimmelt es nur so von Abkürzungen und Fachausdrücken, SGB II und VIII, Eingliederungstitel, Wohngeld – Sara Haug setzt die Kenntnisse der anwesenden Fachleute in Bezug zu denen der Hilfeempfänger*innen: „Als Abgeordnete arbeitet man daran in Vollzeit. Aber die Betroffenen müssen sich da ganz neu einarbeiten, und das neben ihrem gerade aus dem Lot geratenen Alltag.“
Stuttgart geht hier mit gutem Beispiel voran, zeigt Brantner auf, dort muss nicht für jedes einzelne Kind einer Familie ein eigener Förderantrag gestellt werden, „einer fürs Basketballtraining und einer für den Geigenunterricht, und zwar pro Kind“, sondern ein Antrag für eine Familie reicht aus.
Wünschenswert ist auch, dass eine Frau und ihre Kinder automatisch unterhaltsberechtigt sind und dass die Aufgabe, diesen Unterhalt vom Mann oder Kindsvater einzutreiben, gleich bei der Behörde liegt. Derzeit muss die Frau selbst noch einen Antrag auf Unterhaltsvorschuss stellen und ausführlich begründen, warum vom Mann bzw. Kindsvater nichts zu holen ist.
Grundeinkommen oder Garantiesicherung?
Ein wichtiger Unterschied ist zu beachten: Während ein bedingungsloses Grundeinkommen allen Bürger*innen zustünde, ist die Garantiesicherung nur für diejenigen vorgesehen, die aus einer bestimmten Lebenssituation heraus nicht mehr aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt finanzieren können. Die Garantiesicherung ist also als Übergang gedacht, bis die Betroffenen wieder selbst ein Auskommen haben.
Zu berücksichtigen ist dabei auch die Zunahme an psychischen Erkrankungen, eine weitere Erschwernis für Wohnungs- und Arbeitslose. „Wohnungslos, psychisch krank – bis man da eine Maßnahme bekommt, vergeht viel zu viel Zeit“, berichtet Reichstein. „Oft gibt es zu wenig Koordination zwischen den Schnittstellen“, bestätigt Brantner.
Hilfreich wäre die Schaffung weiterer sozialversicherungspflichtiger Arbeitsstellen durch die öffentliche Hand, Joe Schwarz erinnert an die früheren Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen. Aktuelle Beispiele gibt es ja, die Wäscherei der Erlacher Höhe steht ja auch externer Kundschaft zur Verfügung, und die Fahrer für das Sozialkaufhaus werden wirklich gebraucht.
Andreas Reichstein hat schon das nächste Thema im Blick: „Einsamkeit – damit müssen wir uns in Zukunft intensiver beschäftigen, das betrifft immer mehr Leute, und nicht nur Ältere.“ Sara Haug stimmt ihm zu: Die nächste Bundesregierung wird noch viel zu tun haben in ihrer Sozialpolitik.
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