Diskussion: Verraten die Grünen ihr friedenspolitisches Erbe?

Woran glauben die Grünen – noch?

Grundsatzdiskussion auf der Kreismitgliederversammlung von Bündnis 90/Die Grünen in Dornstetten

„Ist der Traum vom Frieden ausgeträumt?“ fragt Frank Ritthaler, einer der beiden Kreisvorsitzenden der Grünen im Kreis Freudenstadt. Auf der Agenda der Kreismitgliederversammlung ging es am Mittwoch heftig zur Sache, enthielten die Themen doch jede Menge Sprengstoff: Ja oder nein zu Waffenlieferungen, was ist feministische Außenpolitik, wer beteiligt sich an den Kosten für das Krankenhaus in Freudenstadt?

Kommunale Fragen

Zunächst nahm die Runde kommunale Themen in den Blick. Welche Fragen sind zu stellen an unseren Gesundheitsminister Manfred „Manne“ Lucha, wenn die Eröffnung des Freudenstädter Krankenhauses ansteht, zum Beispiel zur Finanzträgerschaft?
Was viele nicht wissen: Wenn Ministerinnen oder Staatssekretäre zu offiziellen Veranstaltungen kommen, sprechen sie für ihr Amt und nicht für die Partei, die sie entsandt hat. Für den Kreisverband einer Partei kann das peinlich werden, wenn dieser vorab nicht einmal über solche Pressetermine informiert wird. Korrekt ist die Trennung zwischen Amt und Parteipolitik aber trotzdem.

Vom online-Treffen des Kreisgeschäftsführer- und Kreisvorständetreffens und dessen hochrangigen Gästen berichtete Claudia Harrison, die Geschäftsführerin der Grünen. Ein ambitionierter Klimaschutz-Aktionsplan 2030 wurde vorgestellt von Prof. Dr. Diana Pretzell, ursprünglich Schwarzwälderin. Seit 2020 leitet sie das Dezernat 5 der Stadt Mannheim als Bürgermeisterin für Umwelt, technische Betriebe und Bürgerservice. Pretzell schilderte die Umsetzung globalpolitischer Aufgaben in der Kommunalpolitik: Die Stadt hat zum Beispiel einen Hitze-Aktionsplan, finanziert kostenlose Energieberatungs-Fortbildungen für Bürger*innen, die andere Interessierte beraten, und über 300 weitere Maßnahmen. Solche best-practice-Beispiele sind wichtig für jede Kommune, wenn man sich von anderen gute Ideen abschauen will.

Global denken – lokal handeln

Die Bevölkerung ist in ihrer Handlungsbereitschaft manchmal weiter als alteingesessene Funktionäre. Aber „Krieg und Krisen schweißen zusammen“, zitierte Frank Ritthaler. Einig war man sich auf dem Kreisgeschäftsführer- und Kreisvorständetreffen, dass viele grüne Vorhaben von der Bevölkerung gutgeheißen oder sogar erwartet werden. Widerstand komme eher aus den Reihen der Oppositionsparteien, anderer Dezernent*innen oder bestimmter Lobbyisten.

Politische Entscheidungen bemerken viele Bürgerinnen und Bürger oft erst dann, wenn sie ganz persönlich betroffen sind oder wenn sie Anteil nehmen am Schicksal von Betroffenen in ihrem direkten Umfeld. Die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine berühren uns alle. Viele Gemeinden haben geflüchtete Familien aufgenommen. Die Verwaltungen und viele Freiwillige helfen, so gut sie können. In einigen Gemeinden werden im September Vorbereitungsklassen starten, so dass die Kinder zunächst nur Deutschunterricht bekommen, bis sie dem Regelunterricht einigermaßen folgen können. Auch unter den Grünen sind einige aktive Helfer*innen.

Wieviel Kärrnerarbeit für diese und auch für andere Herausforderungen in den Räten geleistet wird, zeigte sich im regen Austausch auf der Kreismitgliederversammlung (KMV) der Grünen. Im Ortschafts- wie im Gemeinderat, im Bezirksbeirat oder Kreistag sind Grüne aus dem Freudenstädter Kreisverband aktiv.

Manche Fragen betreffen zwar den eigenen Landkreis, verweisen aber auf bundespolitische Grundsatzdiskussionen: Wollen wir wirklich ein Gesundheitssystem mit einigen großen Vollversorgungs-Kliniken, die für alle medizinischen Themen 100%ig ausgestattet sind, und in der Fläche gibt es nur noch „medizinische Versorgungszentren“, die zwar einen gebrochenen Arm richten und schienen können, aber keine Prostata-Operation durchführen?

Je weiter der Weg zum Krankenhaus, desto schwieriger und teurer werden ja auch Besuche für Angehörige. Bei langen Krankenhausaufenthalten ist das ein erhebliches Problem, auch mit medizinischen und finanziellen Konsequenzen: Nachweislich unterstützt der Zuspruch von helfenden Angehörigen den Genesungsverlauf. Zu vergleichen wäre, so schlug Kreisrat Wolf Hoffmann vor, wie die Sonderförderung bestimmter ostdeutscher, ländlicher Krankenhäuser begründet wurde und ob daraus auch für Freudenstadt etwas geltend gemacht werden könnte.

Berichte aus Landes-Arbeitsgruppen

Eine Besonderheit der Grünen sind die Baden-Württemberg-weiten Landes-Arbeitsgruppen (LAG) zu überregionalen Themen, bei denen alle interessierten Bürger*innen mitdiskutieren können. LAGs gibt es zum Beispiel mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Finanzen und Soziales, Gesundheit oder Bildung. Seit die Sitzungen immer auch eine digitale Teilnahme eingerichtet haben, kann man bequem von zuhause aus mitmachen.

Eine LAG befasst sich mit frauenpolitischen Themen. Auf der KMV berichteten Vorstandsfrau Esther Kiessling und Delegierte Vera Naumann von deren letzten online-Treffen: Über Frauen in der Unternehmensführung diskutierten Gabriele Kolompar, Geschäftsführerin der Firma Engel GmbH (Naturtextilien) und Alina Welser, Kreisvorstand Biberach, mit den über 20 Teilnehmerinnen über Unternehmensführung und wie Frauen für die Führungsnachfolge zu gewinnen sind, zum Beispiel in Familienunternehmen oder in technischen Berufen. Wenn Angeberei und das Machoverhalten bestimmter Männer das Betriebsklima bestimmen, scheuen Frauen den Schritt in die Verantwortung. In einem solchen Umfeld wollen sie keine Minute mehr verbringen als nötig. Alina Welser zitierte eine Reihe aktueller Forschungsergebnisse. Der Vergleich zu Frau Kolompars Lebensgeschichte zeigte: Wir erleben derzeit einen Backlash in der Gleichstellung von Frauen und Männern, Rückschritte wie um eine ganze Generation.

Zwar kämpfen die Grünen für die Abschaffung des Ehegattensplittings, für gute Kinderbetreuung, Jobsharing, Frauennetzwerke, eine wertschätzende Kommunikation und Vieles mehr. Stefanie Seemann, MdL, berichtete aus dem Landtag: Schwangerschaftsabbruch wurde in Baden-Württemberg auch mit virtueller Beratung und medikamentös möglich gemacht. Als Erfolg zu verbuchen ist auch die Abschaffung des Paragrafen 219a, so dass die sachliche Information durch Ärztinnen und Ärzte über Schwangerschaftsabbrüche nun legal ist. Aber wie die jüngsten Entscheidungen des Supreme Court in den USA zeigen, gibt es weltweit auch Rückschritte in frauenpolitischen Themen.

Friedenspolitik ist auch Frauenpolitik

Vergewaltigung als Kriegswaffe – vor dem 24. Februar dieses Jahres hätte kaum jemand gedacht, dass dies in Europa nochmals so grausam selbstverständlich werden würde wie in der Ukraine, wenn russische Soldaten in der Zivilbevölkerung wüten. Diese Form der Gewalt und der Demoralisierung klar zu benennen und um Schutz von Frauen und Kindern zu kämpfen ist ein Teil der feministischen Außenpolitik, von der die grüne Außenministerin Annalena Baerbock spricht.

In Friedensverhandlungen sollten Frauen paritätisch mitwirken. Friedensverhandlungen und Friedensschlüsse, an denen Frauen maßgeblich beteiligt waren, zeigen tiefere und längere Wirkung als ein männergemachter „Diktatfrieden“. Vor allem muss die Friedensforschung vorangetrieben werden. Nicht einmal ein Prozent der Gelder, die in Waffen und Militär ausgegeben werden, fließen in die Präventionsforschung und Friedensinitiativen, bevor es überhaupt zu einem Krieg kommt. Hier haben die Grünen noch viel Überzeugungsarbeit vor sich.

Verraten die Grünen ihr friedenspolitisches Erbe?

Als Fortsetzung einer bereits begonnenen Diskussion über den Kurs der Grünen im Umgang mit dem Ukraine-Krieg bot Vorstand Frank Ritthaler einen Panoramablick auf Jahrzehnte Grüner Friedenspolitik: Ostermärsche, Wackersdorf, Pershing II-Stationierung – was ist heute davon übrig geblieben? „Mit der Wende und dem Zusammenbruch des Ostblocks hat sich die friedenspolitische Arbeit ‚von unten‘ stark verändert“, so Ritthaler, „die jetzt verbliebenen aktiven Gruppen und Organisationen engagieren sich in vielen Projekten und Themen. Große Friedensmärsche wie früher die Ostermärsche sind eher selten geworden.

Im KV Freudenstadt wurden ganz unterschiedlich differenzierte Meinungen vorgetragen. Teilnehmerinnen mit jahrelanger Erfahrung in der Ausbildung von Schulkindern als Streitschlichter*innen und Konfliktmanager*innen berichteten von nachweislichen Erfolgen vor der eigenen Tür, nämlich auf dem Schulhof und auf dem Schulweg. „Friedenspolitik heißt, einen Krieg zu verhindern, und diese Präventionsarbeit braucht eine stabile Finanzierung“, führte eine Kreisrätin Zita Grieshaber aus. Kristina Sauter stellte die Gretchenfrage: „Wir wissen ganz viel darüber, wie man Frieden schließen kann – warum wenden wir das nicht an?“

Die Abwägung zu Waffenlieferungen fiel den Grünen nicht leicht. Elvira Schäffer-Hornbach zog eine klare Grenze: „Keiner der Fehler gegenüber Russland, die unserer vorigen Regierung oder anderen Regierungen vorgeworfen werden, gibt Putin einen legitimen Grund, zu den Waffen zu greifen.“ Sie stellte ihre beruflichen Erfahrungen an der Schule dazu ins Verhältnis: „Manche Schüler mussten wir erst einmal entwaffnen – das Messer abgeben. Es war nicht immer leicht, das durchzusetzen, aber da mussten wir konsequent sein.“ Weltpolitisch gesehen können wir das so nicht, ergänzte sie. Grieshabers Einwand: „Man darf einen Täter nicht demütigen.“ Deeskalation sei gefragt, darin war sich die gesamte Runde jedenfalls einig.

Eine Reihe Diskussionsbeiträge enthielten sehr persönliche Erlebnisse, um zu erläutern, wie ein Gesinnungswandel von „Frieden schaffen ohne Waffen“ hin zum Ja für Waffenlieferungen ins ukrainische Kriegsgebiet zustande kam. Lutz Weinbrecht, der langjährige Erfahrung mit ukrainischen Forstwirtschaftsstudierenden mitbringt, wies auf einen ideologischen Konflikt hin: „Ich gestehe den Leuten zu, dass sie frei leben wollen, in einer freien Welt. Aber wir verstecken uns hinter den Amerikanern.“ Seine kritische Frage zu den umstrittenen Waffenlieferungen: „Ist uns diese Freiheit das nicht wert?“

Vorstand Esther Kießling hielt der Runde den Spiegel vor: „Wir kennen den Faschismus – und wir bewundern Widerstandskämpfer, die auch mit der Waffe kämpfen.“ So mancher Kriegsdienstverweigerer hat heute einen ganz anderen, offeneren Blick auf deutsche Soldatinnen und Soldaten. Die Diskussion wird die Grünen noch weiter beschäftigen.

Einig war sich die Runde darin, dass an friedensstiftenden Maßnahmen, vor allem aber an Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensverträgen definitiv mehr Frauen aktiv eingebunden sein sollten. Hier hat die deutsche Politik einen Nachholbedarf, für den die grüne Außenministerin Annalena Baerbock ein längst überfälliges Rollenmodell bietet.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Mehr Frauen in die Politik – aber wie sind diese zu gewinnen? Anna Peters vom neu gewählten Landesvorstand der Grünen in Baden-Württemberg berichtete in der LAG FrauenPolitik vom erfolgreich gestarteten Frauenförderprogramm der Grünen im Ländle. Es gibt viel mehr Bewerberinnen als Plätze. Die Kandidatinnen erhalten Fortbildungen zu Kommunalpolitik und Rhetorik und finden Kontakte zu Mentorinnen.

Zu diesem persönlichen Engagement muss nun noch der nötige Druck von der Basis kommen, erklärte Anja Reinalter, MdB. Der Bundestag arbeitet an einer längst überfälligen Wahlrechtsreform, um die Zahl der Sitze im Bundestag wieder auf ein realistisches und verfassungsgemäßes Maß zurückzubringen. Nur mit erheblichem Druck von der politischen Basis kann weiter für eine paritätische Beteiligung von Frauen auf den Sitzen unseres Parlaments gearbeitet werden, machte Reinalter deutlich.

Die Landesgeschäftsstelle der Grünen möchte gerade im ländlichen Raum ihre Kreis- und Ortsverbände stärken. Im Wahlkampf hatte sich gezeigt, dass große Namen eher zogen, wenn Themen Aufmerksamkeit erwecken sollen. Cem Özdemir auf dem Alpirsbacher Windrad, Franziska Brantner im Freudenstädter Familienzentrum – heute bestimmen sie maßgeblich die Bundespolitik mit. Aber was geschieht zwischen den Wahlen? Die Freudenstädter Grünen fragten kritisch, wie hilfreich ein „Betreuungsabgeordneter“ noch sei. In jedem Fall arbeite die Parteiführung intensiv daran, Menschen Mut und Lust zu machen auf Politik, so Lena Schwelling, Landesvorsitzende der Grünen und ehemalige Ulmer Stadträtin.

Was zu tun bleibt

Gesundheitsthemen und Fragen der häuslichen Versorgung in Pflege und Krankheitsfällen drängen immer mehr Familien. Care-Arbeit, das Sich-Kümmern um Betroffene, liegt zu einem großen Teil in den Händen von Frauen. Je besser ambulante Dienste und medizinische Versorgung vor Ort ineinandergreifen – aber darum muss sich jemand kümmern! – umso größer ist die Bereitschaft vieler Angehöriger, sich dauerhaft zu engagieren anstatt Pflegebedürftige „abzugeben“. Hier gibt es noch viel zu tun.

Der Kreisverband Bündnis 90/Die Grünen wünscht sich weiterhin solche themenbezogenen Diskussionen, sowohl mit Fachleuten als auch mit interessierten Bürger*innen. Auf der Webseite des Kreisverbands sind die nächsten Sitzungstermine ausgeschrieben.

Vera Naumann

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