Franziska Brantner (MdB) und Sara Haug, Bundestagskandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, besuchten am 10.09.2021 das Mehrgenerationenhaus Familien-Zentrum-Freudenstadt
Eltern psychisch zusammengebrochen, Gewalt, ein Hilferuf. Eigentlich ist es dann schon fünf nach zwölf. „Bis die Leute zur Beratung kommen, vergeht viel Zeit, das können ein, zwei Jahre sein“, sagt Marianne Reißing, Vorstandsfrau des Mehrgenerationenhaus Familienzentrum Freudenstadt. In einer kompetenten Runde schildern Fachleute der Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner und der Direktkandidatin Sara Haug ihren Alltag und ihre Sorgen.
Kinder in der Krise – Fragezeichen oder Ausrufezeichen? So moderierte Frank Ritthaler von den Freudenstädter Grünen das Fachgespräch an. Die Fachleute antworten sehr konkret: „Nachts um zwei werden unsere Mitarbeiterinnen aus dem Bett gerufen, weil ein Kind in Not ist“, berichtet Nele Müssigmann vom Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt. „In manchen Fällen kennen wir ganze Geschwisterreihen, weil die Kinder eins nach dem anderen bei uns auftauchen.“
„Die Corona-Zeit hat uns überdeutlich gezeigt, welche Baustellen wir in unserer Erwachsenenwelt zu bearbeiten haben, damit die Lebensverhältnisse für die Kinder nicht noch dramatischer werden“, sagt Elvira Schäffer-Hornbach von den Grünen. Der Kinder- und Jugendarzt Dr. Stefan Langrehr fügt hinzu: „Ja, Kinder sind die Verlierer der Corona-Krise. Adipositas, psychische Belastungen – so viele Fälle bei den Patienten, die sich bei mir vorgestellt haben, hatte ich die ganzen Jahre zuvor nicht.“
Das Gesamtsystem im Blick haben
„Wir erreichen mit sensiblen und niedrigschwelligen Zugangswegen im Familien-Zentrum-Freudenstadt viele Menschen unterschiedlichster Kulturen und Milieus. Alle Familien betrifft ja das große Spektrum der familiären Sorge-Arbeit, viele auch das Thema Pflege. Deswegen ist es nötig, möglichst früh im Sinne der präventiven Familienarbeit die Familiensysteme im Ganzen in den Blick zu nehmen, diese breit zu unterstützen und zu stabilisieren und nicht in der vielfach häuslichen Isolation alleine zu lassen“. Als Vorstandsfrau des seit 1991 unter ehrenamtlicher Leitung arbeitenden Familienzentrums hat Marianne Reißing viel Erfahrung gesammelt.
Das Haus bietet nicht nur eine Kindertagesstätte, sondern auch ein offenes Café, eine Schreinerei, eine Schneiderei, eine Bügelstube und sogar einen Raum der Stille. Überall können Menschen ihre Interessen und Fähigkeiten einbringen oder etwas lernen, zum Beispiel als Gastgeberin im Café – das ist mehr als eine Bedienung, denn hier werden Kontakte ganz aktiv geknüpft. So gibt es auch eine Reihe von Gesprächskreisen, bis hin zu einem Treff pflegender Angehöriger für Demenzkranke.
Marja Schoenmaker Ruhl vom Kinderschutzbund kennt die Begleitung von Familien auch, denn es geht immer um mehr als um das einzelne Kind: „Wir müssen die Ressourcen der Eltern nutzen, die empfänglich sind für Unterstützung.“ Wenn dies nicht geschieht, kann bei Überlastung eine Spirale von Vernachlässigung und Gewalt entstehen. „Gewalt ist immer ein Thema, sagt Schoenmaker Ruhl, „wenn auch nur latent.“
Rüdiger Holderried von der Mobilen Jugendarbeit sieht eine weitere Gefahr: „Wie attraktiv ist der öffentliche Raum für Jugendliche? Corona verdrängt Jugendliche von der Straße, und wenn sie in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent sind, dann sind sie weniger zugänglich für Jugendhilfe.“
Integrierte Lösungen sind gefragt. „Wir nehmen mit Besorgnis zunehmend wahr, wie insbesondere die Mütter einfach nicht mehr können! Daher bedarf es dringend breiterer und vor allem ineinandergreifender Unterstützungssysteme, so dass die Alltagsschultern leichter werden“, fordert Marianne Reißing. Ihr Beispiel: Homeschooling für kleine Kinder einer alleinerziehenden Mutter in einer Zweizimmerwohnung – es braucht nicht viel Fantasie, um das als schwierig zu erkennen. „Familien, die mehrere Kinder in der Schule haben, müssen unterstützt werden, die schaffen das mit Homeschooling und Lockdown nicht auch noch nebenher.“
Prävention zahlt sich aus
Erziehungshilfen sind wichtig, keine Frage. Aber „ist es unsere pädagogische Aufgabe, den Eltern beizubringen, wie sie ihr Handy gebrauchen sollen?“ fragt Dr. Langrehr. Seine Beobachtung: „Ich kenne Eltern, die halten schon ihren Kleinkindern das Handy hin und bringen ihnen bei, damit zu spielen.“
Franziska Brantner hört lange zu und fragt schließlich: „Was wäre denn aus Ihrer Sicht nötig?“ Mehr eingebunden sein in politische Entscheidungen, gehört werden und Anerkennung bekommen für unsere Arbeit“, antwortet Nele Müssigmann vom Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt. „Nicht immer nur die Minimalbesetzung im Job, sondern auch mal zu zweit im Dienst sein, um sich mit Kolleg*innen besprechen zu können“, wünscht sich Rüdiger Holderried, der auch in der Suchtberatung tätig ist.
Einhellig ist der Wunsch nach einer echten Beteiligung von Kindern und Jugendlichen bei der künftigen Regierung. „Bisher haben Kinder viel zu wenig zu sagen“, konstatiert Marianne Reißing. Elisabeth Gebele, auch im Vorstand des Familienzentrums: „Bauangelegenheiten zum Beispiel, Städte und Gemeinden würden anders aussehen, wenn Kinder und Familien ein Mitspracherecht hätten.“ Außerdem möchte sie Resilienzfaktoren bei Kindern stärken, also deren Widerstandskraft und Handlungsfähigkeit in Krisensituationen.
Frust über die Sisyphusarbeit
Bitter ist es, wenn auch die besten Argumente an anderen abprallen. „Ich glaub da nicht so dran“, hört Dr. Langrehr von einem impfunwilligen Vater. Seine Sorge: „Wenn wir es nicht hinbekommen mit den Impfungen, ist irgendwann alles zu! Wir haben jetzt jeden Tag Kinder, die positiv getestet werden.“ Franziska Brantner berichtet von ähnlichen Diskussionen an ihren Wahlkreis-Infoständen: „Wenn Sie es nicht für sich tun, dann lassen Sie sich wenigstens wegen Ihrer Enkel impfen.“ Positive Beispiele gibt es ja. Dänemark zeigt, dass eine hohe Impfquote die gesamte Bevölkerung entlastet.
Elisabeth Gebele, die auch Ärztin ist, macht deutlich: „Nicht ungeimpfte Kinder sind das Problem, sondern die 15 Millionen ungeimpften Erwachsenen, die die Kinder gefährden.“ Die beiden Ärzt*innen beklagen auch verschleppte Entscheidungen in den Schulen: „Es ist frustrierend, wir haben immer wieder angesprochen, was nötig ist.“
Auch die Abschiebung von gut integrierten Geflüchteten schmerzt. Dr. Langrehr erlebt es immer wieder: „Wir machen alles für die Kinder, die bekommen die beste Versorgung, die wir bieten können, und dann sind sie plötzlich weg.“ Seine Aufforderung an die Bundespolitik ist, gut integrierten Kindern und Jugendlichen ein Bleiberecht einzuräumen, insbesondere wenn Geflüchtete sogar eine Ausbildung abgeschlossen haben. Bürokratische Hemmnisse müssen abgebaut werden, „es kann doch nicht sein, dass jemand direkt vom Arbeitgeber in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen werden kann, und dann fehlen die Papiere für die Aufenthaltsgenehmigung!“
Ehrenamtliche Arbeit oder bezahlte Fachkräfte?
Viel Arbeit rund um Familien und Kinder wird unbezahlt von Freiwilligen geschultert. „Man kann solche Aufgaben aber nicht dauerhaft an Ehrenamtliche delegieren“, wendet Schoenmaker Ruhl ein. Sie sieht es als Aufgabe der Politik, hier Abhilfe zu schaffen. Den Personalmangel beklagt auch Nele Müssigmann: „Wir können unsere Aufgaben nicht immer so machen, wie wir es für unsere pädagogische Arbeit als angemessen erachten, da wir nicht ausreichend ausgestattet sind.“
Die Schlange beißt sich sozusagen in den Schwanz: „Wenn wir mehr Mütter zur Erwerbstätigkeit motivieren wollen, dann brauchen wir auch mehr Erziehungsangebote für Kleinkinder“, stellt Dr. Langrehr fest.
Kann die Politik es richten?
Franziska Brantner strebt einen Abbau der Papierflut an: „Der Staat hat bisher seine Bürokratie auch noch bei denjenigen ausgelagert, die sowieso schon genug gefordert sind. Der Saat hat doch die Daten, da müssen einige Prozesse automatisch laufen, dafür kann man auch die Kommunen befähigen. Teilhabe muss auch heißen: Entlastung von unnötiger Bürokratie.“ Eine weitere Stellschraube für politische Lösungen wäre die Einführung einer differenzierten Grunderwerbsteuer. So könnte man zwischen Spekulanten und sozialem Wohnungsbau unterscheiden und bezahlbaren Wohnraum fördern.
Aber auch öffentliche und unkomplizierte aufzusuchende Räume, wie z.B. in den Familienzentren und den Mehrgenerationenhäusern, sind nötig und müssen verlässlich Fördergelder erhalten. Marion Reich vom Familienzentrum hat gute Erfahrungen mit dem Café des Hauses, wo Gespräche entstehen und vorsichtig erste Kontakte aufgenommen werden können.
Die Bundestagskandidatin Sara Haug hat selbst Erfahrung mit Pflegegeschwistern in ihrer Familie und kennt die Nöte solcher Krisen aus eigener Anschauung: „Da bekommt man mit, was für zerrüttete Familienverhältnisse es geben kann, deswegen ist es mir ein persönliches Anliegen, Kinderrechte, Familien und das soziale Netz zu stärken.“
Text und Bilder: Vera Naumann
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